Matthias Geitel

 

Im Doppelpack: Matthias Geitel & Michael Geyersbach

 

Ausstellung in der Kunsthalle Erfurt, 2006


Interview zwischen Matthias Geitel, Michael Geyersbach und Dr. Kai Uwe Schierz (Direktor der Kunsthalle) am 29. März 2006
Verwendet für den Schutzumschlag der Publikation „Im Doppelpack: Matthias Geitel & Michael Geyersbach“,
herausgegeben anlässlich der gleichnamigen Ausstellung in der Kunsthalle Erfurt, 2006

Kai Uwe Schierz: Wenn ich über die Eigenart eurer Arbeit nachdenke, fällt mir auf, dass ihr künstlerische Positionen bezieht, die nicht gerade im Zentrum dessen liegen, was man traditionell unter bildender Kunst – Malerei, Grafik, Skulptur – versteht, auch wenn ihr beide diese Formen schon betrieben habt. Euer künstlerisches Selbstverständnis kommt eher aus einer Richtung, die mit dem Verknüpfen von Prozessen der gesellschaftlichen Wirklichkeit, speziell von Kommunikationsprozessen, mit Formen der bildnerisch-künstlerischen Arbeit zu tun hat. Matthias, wenn ich deine bisherige Werkentwicklung auf eine knappe Formulierung bringen wollte, würde ich vielleicht sagen, dass sich aus Verdichtungen von Zeichnungen schließlich zeichenhafte Gebilde ergeben haben, die man als Signets, Wort-Kürzel, als Sprachzeichen ansehen könnte. Vieles kommt aus dem Zeichnerischen, spielt in die Sprache hinein und führt doch wieder zurück ins Zeichnerische. Sieht du das auch in dieser Bewegung?
Matthias Geitel: Die zeichnerische Arbeit hat ab 1996 an Intensität gewonnen und sich in den ersten Jahren so ähnlich entwickelt, wie du das beschreibst, als Ansammlung einer Vielzahl von Vokabeln. Dadurch, dass ich für die zeichnerischen Zyklen immer ganz bestimmte Festlegungen traf, die Wahl des Materials oder beispielsweise die Freiheit der Linienführung betreffend, entstanden relativ klar voneinander unterscheidbare Zeichensammlungen, wenn du so willst: unterschiedliche Sprachen mit eigener Grammatik und Syntax. Einige der Zyklen sind Ergebnisse von Studienreisen und sie spiegeln auf diese Weise einen sehr speziellen Ausschnitt von Welt, sie sind gebunden an meine persönliche Aufnahme eines konkreten Ortes, d.h. sie sind verknüpft mit Erlebnissen, Beobachtungen, mit Gelesenem genauso wie mit phantasierten Gebilden, die nur in diesem Moment in meinem Kopf existierten. Eigentlich sind alle Zyklen bezüglich der Anzahl der Zeichnungen als offene Sammlungen angelegt, die nach Belieben erweitert werden können. Die Realität hat aber gezeigt, dass es eher zu Neudefinitionen kommt, als zur Fortsetzung bereits durchgeführter Experimente.
Kai Uwe Schierz: Ich erinnere mich noch gut, wie du in Olevano, als Stipendiat der Casa Baldi, Ansichtskarten von Rom und der Umgebung gekauft und anschließend zeichnerisch verarbeitet hast. Man könnte auch sagen, du hast grafische Kürzel daraus extrahiert und mit einer Datumsangabe versehen. Das ergab dann den ersten großen zeichnerischen Zyklus.
Matthias Geitel: Die Zeichnungen nach italienischen Ansichtskarten sind der erste Teil des Zyklus „Betrachtungen über das Gerinnen der Form“ und von großer Bedeutung für die gesamte weitere Entwicklung. Ursprünglich sollten die Zeichnungen nur visuelle Notate zeitgenössischer Landschaftsdarstellungen sein. Ich verfolgte nämlich die Idee einer Konzeptarbeit, die sich mit den in der Casa Baldi logierenden deutschen Romantikern zu Beginn des 19. Jahrhunderts auseinandersetzte. Dann verfing sich mein Blick in einigen interessanten Linienkonstellationen dieser Skizzen, in den Leerstellen, in den Erinnerungsmustern, und von da an bekam die autonome Zeichnung größeres Gewicht, wurde ein selbstverständlicher Teil meiner Arbeit, der nicht mehr der Legitimation durch ein besonderes künstlerisches Konzept bedurfte. Einfache Zeichnungen eben, die für sich selbst sprechen. Zeitgleich probierte ich verschiedene andere zeichnerische Möglichkeiten aus. Das Interessante an der Zeit in Olevano ist, zu sehen, wie sich die verschiedenen denkbaren Wege zu überlagern begannen hin zu einem reduzierten, zeichenhaften Stil, wie er sich dann ein Jahr später in New York etablierte. Die Zeichnung als Notat. Eine Sammlung visueller Erinnerungen, deren Bedeutung nur begrenzt dekodiert werden können, Zeichen, Logos, symbolhafte Kürzel. Übertragen auf den sprachlichen Bereich könnte man von Vokabeln sprechen, allerdings von einem Wortesammelsurium, zusammengestellt aus allen möglichen Sprachen.
Kai Uwe Schierz: In New York hast Du dann auch eigene Fotografien von Straßenszenen auf die gleiche grafische Weise umgesetzt.
Matthias Geitel: Ja, die „Zeichnungen nach Fotografien“ waren die direkte Fortsetzung der italienischen Versuche. Meine Wanderungen durch die Stadt dokumentierte ich mittels Fotografien von Ampelkreuzungen, genauer gesagt, ich fotografierte einzelne Personen beim Überqueren der Straße. Diese Fotos dienten dann als Ausgangspunkt für zeichnerische Exzerpte.
Kai Uwe Schierz: Du hast gerade deine konzeptuelle Arbeitsweise erwähnt. Da gibt es ja noch eine weitere Facette in deinem Werk, die auf einen zufälligen Druckplattenfund im ehemaligen Berliner Grenzstreifen zurückzuführen ist und eine ganze Reihe von Formen und Prozessen auslöste. Man könnte sie im weitesten Sinne der künstlerischen Spurensuche zuordnen. Dieses Arbeitsprinzip blieb für dich ja längere Zeit bestimmend, in Erfurt, in Berlin und später auf Reisen. So hattest du z.B. in einem verlassenen Haus der Erfurter Pergamentergasse dutzende Schichten von übereinander geklebten Tapeten ausgeschnitten und später voneinander gelöst, als einzelne Schicht und Geschichte wieder sichtbar gemacht. Ich komme darauf, weil sich hier schon deine Art der Rekomposition und Umformung vorgefundener Zeichen ankündigt, die viel mit Musterbildungsprozessen zu tun hat, genauso wie mit Gedächtnis, Erinnerung, mit der Archäologie kultureller Muster. Der Berliner Druckplattenfund stammte zum großen Teil aus der Produktion des Reallexikons der Vorgeschichte von 1924, wohl illegal entsorgt aus alten Druckereibeständen. Dabei handelte es sich um wissenschaftliche Illustrationen, um grafisch-verknappte Darstellungen von Fundstücken, fast schon selbst Piktogramme. Diese Fundstücke wurden für Dich Material für neue Bildfindungen.
Matthias Geitel: Eine komplexe Grundsituation, auf die ich damals stieß. Die Abbildungen archäologischer Fundstücke waren selbst zu quasiarchäologischen Fundstücken geworden, die ich damals - zehn Jahre ist das jetzt her - ernst nahm und entsprechend behandelte: Ich analysierte meine „Grabungsstelle“, trug ab, sortierte, räumte auf und überließ das Areal wieder der Natur. Seitdem begleite ich den Prozess der Renaturierung dieses Landschaftsabschnitts mit der Kamera. Das ganze Konvolut von Druckplatten kann man interpretieren als eine Bebilderung von mehreren Jahrtausenden Menschheitsgeschichte, lauter Bildpunkte oder Pixel, die zusammengenommen ein sehr dichtes Gewebe ergeben. Das führt uns zurück zum Thema Einzelzeichen, Zeichengruppen und Musterung. Auch Geschichte kann man ja als Musterbildungsprozess begreifen. Genau in diesem Sinne habe ich die Druckplatten später in verschiedenen Installationen verwendet. Ich habe sie selbst unangetastet belassen, sie nur als Bildpunkte begriffen und verwendet, indem ich z.B. reguläre Flächen mit ihnen aufbaute oder andere Bilder reproduzierte. Im Grunde greife ich auf das Prinzip elektronischer Bilddarstellung zurück, die nichts weiter ist als eine Ansammlung winziger quadratischer monochromer Farbflächen. So ähnlich habe ich die Fundstücke von Dreilinden verwendet und so setze ich übrigens auch meine eigenen, von mir selbst entworfenen Zeichen ein: Aus den einzelnen Zeichnungen mit gewissen Bedeutungen erstelle ich am Computer Zeichenpixel, die musterhaften Charakter haben, um diese in ihrer massenhaften Aneinanderreihung zu Flächen zu fügen, die unter Umständen wieder konkrete Abbildungen unserer Welt sein können.
Kai Uwe Schierz: Michael, dein künstlerisches Herkommen würde ich gern mal so beschreiben wollen: aus dem Tagebuch geboren. Aus der Sprache, der subjektiven Sprache und aus dem im Tagebuch probeweise vorgenommenen Formulierungsansatz. Wie reflektiere ich über Welt, wie spreche ich über Welt? Du hast zumeist in einer Weise gearbeitet, die kaum etwas mit der herkömmlichen Vorstellung von der Atelierarbeit eines Künstlers zu tun hat. Du hast für das Theater und für den Rundfunk produziert, auch ephemere Interventionen in den öffentlichen Raum vorgenommen, z.B. in jüngerer Vergangenheit im Weimarer Bahnhof oder im Römischen Haus, das im Weimarer Ilmpark steht. Würdest du meiner Behauptung zustimmen, der Geist deiner Kunst sei aus dem Tagesbuch geboren?
Michael Geyersbach: Mir fällt gerade eine Geschichte ein. Ich war sieben oder acht Jahre alt und lebte in Coswig an der Elbe und war Präsident eines Landes, das hieß Elbland. Natürlich hatten wir auch französische und englische Botschafter, und sie kamen mit Urkunden, um sich bei mir akkreditieren zu lassen. Da ich weder Französisch noch Englisch beherrschte, habe ich die Urkunde einfach im ‚französischen Stil“ aufgeschrieben. Ich habe also Worte erfunden, die französisch klangen. Das war vielleicht meine erste Sprachaktion. Und die ersten Bücher, die ich mit diesen Texten füllte, waren ausgediente Firmenkalender meines Großvaters. Das ist schon richtig: Ich habe immer mit Sprache und Tagebüchern gearbeitet, man ist ja schon als Kind von Büchern umzingelt: Klassenbücher (in die man nichts schreiben durfte) und Konsummarkenhefte, Taschenkalender, Busfahrpläne, in die ich zeichnen konnte. Das hat mit Kunst noch nichts zu tun. Der Moment, diese ebenso persönlich wie spielerische »Buchproduktion« ernster zu nehmen und vielleicht in künstlerische Produktion zu wandeln, kam erst 89.
Kai Uwe Schierz: Aber du hast doch sehr vielfältig gearbeitet? Und bist als freier bildender Künstler immer schon mit Sprache umgegangen. Bis zu den tagebuchartigen Zeichnungen, die ich Anfang der 90er Jahre im Dix-Museum Gera sah.
Michael Geyersbach: Wo ich auf Briefen, auf Zeitungspapieren und gefundenen Papieren zeichnete, die im weitesten Sinne auch Tagebuch-Notate sind. Und worin immer wieder auch Schrift hineinspielte.
Kai Uwe Schierz: Würdest du sagen, Kunst ist auch nur eine Sprache?
Michael Geyersbach: Oder ist Kunst ein Versprecher?
Kai Uwe Schierz: Ich spiele an auf das Verdikt, es könnte vielleicht von Liebermann oder Beckmann kommen: Maler male, rede nicht! Das spielte im traditionellen Kunstverständnis der DDR ja eine wichtige Rolle, diese etwas willkürliche Abtrennung des gesprochenen oder geschriebenen Wortes von der bildenden Kunst, gegen alles Literarische, die ursprünglich aus der Ablehnung der Sezessionisten gegen den gemalten Historienschwulst der bürgerlichen Salons erwachsen war, in der DDR aber um spezielle Noten gegen Konzeptkunst, Dada usw. bereichert wurde. Ich denke dagegen immer, wenn Maler malen, dann ist das – in einem weiten Verständnis – auch nur eine Art von Erzählung.
Michael Geyersbach: Der Spruch meinte vielleicht, dass man als bildender Künstler schwer etwas über seine Arbeit sagen kann.
Kai Uwe Schierz: Deine Kunst behauptet ja sogar die Notwendigkeit des Sprechens in und mit der Kunst. Also dass Kunst, auch die bildende, im weitesten Sinne ein kommunikatives Verhältnis ist.
Michael Geyersbach: Worte können für mich Bilder werden. Der Vorgang, wie ein Wort ein visuelles Ereignis wird, geht ja nicht nur über seine Typografie. Er geht ja auch über die Bedeutung des Wortes, seinen Kontext. Meine Herkunft ist gleichermaßen von Schwitters, von Friederike Mayröcker oder Ernst Jandl, Raoul Haussmann oder dem Dadaismus als Bewegung. Es kommt noch etwas hinzu, das ich Ironie nenne oder Verschiebung. Also die Worte aus dem alltäglichen oder dem Fachsprachengebrauch zu nehmen und in einen neuen Kontext zu stellen. Dieser Verschiebebahnhof der Sprache. Das interessiert mich.
Kai Uwe Schierz: Ich denke da an die surrealistische Methode, das heißt, Dinge aufeinander zu beziehen, aufeinander prallen zu lassen, die eigentlich nicht zueinander gehören, jedoch in der Zwangsvereinigung ganz neue Nuancen der Bedeutung, sogar neue Idiome ermöglichen. Ich denke z.B. an die wunderbaren grafischen Bildmontagen von Max Ernst. Du sprichst von Kontextverschiebung. Man könnte auch sagen, dass du aus verschiedenen sprachlichen Gebrauchszusammenhängen Worte entlehnst, um sie im Modus der Kunst aufeinander zu beziehen. Es handelt sich um übliche Sprache; doch die Art, wie du was miteinander verbindest, wirkt plötzlich ganz unüblich, fremd, fraglich, also der Befragung wert.
Michael Geyersbach: Ich bin zuerst einmal Jäger und Sammler in der Sprachwildnis. Das gefundene Material verdichte ich dann zu konkreten Aufgaben, wie bei meiner Kunst-am-Bau-Arbeit für die Landesversicherungsanstalt in Erfurt, wo ich Worte wie in einem Informationssystem auf Spiegel aufgebracht und in die farbigen Wände eingefügt habe. Die Form der Installation lässt doch an eines der öffentlichen Informationssysteme denken.
Kai Uwe Schierz: Das waren ja Wortkomposita. Du hast je zwei Begriffe aus unterschiedlichen Kontexten verknüpft und so neue Kontexte erzeugt.
Michael Geyersbach: Das Wort Seniorenabo, das Wort Fleischoffensive, das Wort Utopiekontrolle verknüpft jeweils ein Wort aus dem sozialen Bereich mit einem Wort anderer, z.B. technischer Zusammenhänge. Das war eine Kompositionsarbeit. Wie diese Wortkomposita in den bebauten Raum zu stellen: wohin, in welcher räumlichen und thematischen Beziehung zueinander? Ich habe das Letzte ziemlich lange probiert; mit Papier im Rohbau. Was passiert, wenn ich an einem bestimmten Platz stehe und diese Worte rechts und weiter hinten zugleich sehen und lesen kann? Es handelte sich um eine geometrische Anordnung von Worten, die interpretierbar bleibt. Nicht durch mich vorgegeben, aber doch assoziativ zu erschließen von Dem- oder Derjenigen, die diese Räume durchquert.
Kai Uwe Schierz: Du hast Worte, ihre typografisch erzeugte Form wie auch ihre Hintergründe, mit speziellen Farben versehen, hast einen eigenen Code definiert, hast diesen Farbcode zum Teil gegen die Wortbedeutungen laufen lassen. Dann hast du die Formative der Worte so stark verändert, dass man nur noch Streifen sah, wie beim Barcode im Supermarkt. Wie würdest du diese Arbeit kommentieren, die letztlich im Unlesbaren endet?
Michael Geyersbach: Es ist ja so, dass ein Wort benutzt wird, in dieser Benutzung sich abnutzt, vernutzt. Oder eine andere Bedeutung findet. Diese Prozesse laufen ab im und durch den Gebrauch der Sprache im Leben, dass sich ständig verändert. Bei den Streifencodes war es so: Ich nehme ein Stück vorgefundene Sprache, einen Satz z.B., schiebe die Buchstaben grafisch zusammen, bis das Ganze nur noch ein Streifencode ist. Das Wort ist noch da, aber aus der Kommunikation gefallen. Oder in eine andere Ebene gewandert, man könnte den Code ja wieder entschlüsseln. Aber ich lege über die Streifen ein neues Wort. Geschaffen aus jeweils einem deutschen und einem englischen Wortteil, die gesprochen im deutschen Sprachraum ambivalent funktionieren, z.B. whereweiss. Where ist eigentlich Wo, aber deutsch gesprochen auch die Frage nach der Person, und weiss ist Farbe, aber auch Weisheit, je nach sprachlicher Perspektive.
Kai Uwe Schierz: Auch eyeweiss war eine deiner Sprachspiel-Fügungen.
Michael Geyersbach: Ja, ich implantiere Bedeutungen. Ich nehme aus einem anderen Sprachgebiet dieses Wort heraus und mache es neu.
Kai Uwe Schierz: Sprache und sprachliche Bedeutungen funktionieren nur in bestimmten Kontexten des Gebrauchs. Darin finden wir die vielfältigsten Automatismen des Bedeutens und Verstehens. Ich denke, wenn du sagst, Sprache verbrauche sich, dann meinst du vielleicht diese gedanken- oder bewusstlosen, weil automatisierten Formen des Gebrauchs, wie im small talk. Ich vermute, dein Ansatz ist es, durch Neologismen und Dekontextualisierungen der Sprachform und ihrer Bedeutung ein frisches Maß an Aufmerksamkeit zurück zu geben.
Michael Geyersbach: Es gibt Automatismen wie Sprichwörter oder Redewendungen, die ich sehr interessant finde, und die fester Bestandteil meines Reservoirs an Wortbildungen sind; auf die ich immer wieder zurückgreife.
Kai Uwe Schierz: Aber du hast ja viele Sprachstücke auch in der Presse gefunden …
Michael Geyersbach: … oder zum Teil so getan, als hätte ich sie dort gefunden, obwohl ich sie doch selbst erfunden habe. Erfindung und Findung gehen bei mir ständig ineinander über, das ist fast ein Vorgang. Ich weiß mitunter selbst nicht mehr, ob ich etwas irgendwo gelesen habe oder selbst ausgedacht. So geschehen mit dem Wort Herzschlagleiche, das ich glaubte erfunden zu haben, dann aber in einem Gedicht der Frau Mayröcker fand. So dass ich nun nicht weiß, ob ich es schon gelesen hatte und vergessen, um es dann – so glaubte ich jedenfalls – wieder neu zu erfinden. Eigentlich geht es mir darum, mich in der Sprache zu bewegen.
Kai Uwe Schierz: So wie sich andere bildende Künstler in der Farbe, der Linie oder dergleichen bewegen?
Michael Geyersbach: Weiß ich nicht, ob man das vergleichen kann. Es gibt ja diese, vielleicht von der Kultur künstlich errichtete Grenze zwischen Bild und Sprache. Etwas ist Illustration eines Textes, also an die Sprache gekettet, das Bild ist die Magd der Worte, sagt Hegel zur Illustration, oder die Sprache ist Beschreibung, Erklärung von Bildern. Immer handelt es sich um Grenzziehungen. Man kann sie respektieren oder negieren. Ich für meinen Teil negiere sie.
Kai Uwe Schierz: Matthias, wir sprachen gerade von der Deformierung schriftsprachlicher Formative bis hin zu Linien. Auch du hast mal davon gesprochen, dass deine Arbeit eine Art von Deklination der Möglichkeiten der einfachen Linie sei. In gewisser Weise sind deine Verknappungen visueller Erscheinungen zu elementaren Linien doch mit der Entstehung der farbigen Barcodes von Michael zu vergleichen? Deformation als Neuinterpretation. Aber auch Mittelwechsel, z.B. vom Marker zur Aquarelltechnik, als Möglichkeit der Neuinterpretation. Was bedeutet dir die Arbeit am Zeichen, das oft einem Sprachzeichen nicht unähnlich ist, manchmal zum Muster tendiert?
Matthias Geitel: Im Laufe von zehn Jahren des Herantastens an die „einfache Linie“ haben sich natürlich Veränderungen des Standpunktes ergeben. Hatte das Zeichnen in Olevano oder New York wirklich auch etwas von Tagebucharbeit, so verlor sich dieser Aspekt später allmählich. Das hat sicher etwas mit den äußeren Lebensumständen zu tun, auf jeden Fall ist die Entwicklung ein Resultat des veränderten Anschauens von Zeichnungen. Ich befinde mich in einer permanenten Pendelbewegung zwischen inhaltlicher Bedeutung und grafischer, d.h. optischer Präsenz. Dass ich heute in der Lage bin, eine Zeichnung oder ein Zeichen bar ihrer eventuellen Inhalte als interessantes und beachtenswertes Ding anzuerkennen, empfinde ich als großen Gewinn. In der ersten Zeit ging es darum, den ganzen Erfahrungsraum, aus dem der Kopf schöpft, am Zeichentisch zu einem Kürzel gerinnen zu lassen, gewissermaßen Inhalte durch Linien zu verschlüsseln, die der Betrachter unter Rückgriff auf seine eigenen Lebenserfahrungen und Bilder für sich ganz persönlich dekodieren muss.
Kai Uwe Schierz: Er muss also assoziieren …
Matthias Geitel: Das ist zwangsläufig ein assoziativer Vorgang, denn es gibt ja keine Titel und Erklärungen für die Zeichen. Dass ein Großteil der Informationen doch in meinem ursprünglichen Sinne entschlüsselt werden kann, hat etwas mit dem gemeinsamen Formen- und Erinnerungsschatz zu tun, auf den wir alle zurückgreifen. Interessant wäre es zu untersuchen, welche Assoziationen Menschen aus anderen Kulturkreisen entwickeln würden. Aber neben diesen Fragen der Deutung und möglichen Entschlüsselung hat sich zunehmend die Arbeit an den einmal geschaffenen Formen etabliert. Die maßstabsgetreue Übersetzung in Malerei stand diesbezüglich am Anfang. Später komponierte ich aus einzelnen Zeichnungen kleine Pixeln, aus denen ich – ähnlich wie bei den Druckplatten – neue Motive formte, neue Bilder generierte. Oder ich verformte, streckte und stauchte die Motive, eine Art, das Thema Design aufzunehmen und durchzuspielen. Design als zwanghafte Ambition, alles gestalten, anpassen und in zeitgemäße Form pressen zu müssen. In gewisser Weise ist dieser unbedingte Wille zur Gestaltung ja ein permanenter gewaltsamer Eingriff in unsere Umwelt. Als Künstler ist man daran direkt beteiligt, aber man fragt sich natürlich, wie sinnvoll das alles ist.
Michael Geyersbach: Darf ich hierfür ein Beispiel bringen? Als wir gemeinsam die gelbe Wand in der Landeskunstausstellung gestalteten, sagte man uns, wir würden ja so etwas wie Design machen.
Kai Uwe Schierz: Als Vorwurf gemeint?
Matthias Geitel: Vielleicht mit einem abwertenden Unterton, weil nichts Handgemachtes mehr zu sehen war, nur Wortgebilde, Farbcode und ein in quadratische Papierflächen zerschnittener Katalog einer vorangegangenen gemeinsamen Arbeit, also auch hier die Auflösung einer alten Form in einem neuen Muster. Die Leute fragen dann schnell nach dem Inhalt, ohne zu erkennen, dass die Bedeutung nicht mehr im Zeichen selbst, sondern im dargestellten Prozess seiner Modifizierung zu finden ist. Schaut man sich die Filtergalerie von Photoshop an, bekommt man eine Vorstellung von der Manipulationswut, der unsere Lebenswelt ausgesetzt ist. Wenn ich meine Zeichen in ein genormtes Format bringe, muss ich die unterschiedlich großen Formen strecken oder stauchen, um sie zu vereinheitlichen. Dieser Prozess bildet Gewaltanwendung ab, ist in einem gewissen Sinne also auch politisch zu deuten.
Kai Uwe Schierz: Ich würde vielleicht im weitesten Sinne sagen, und gar nicht als Vorwurf, dass darin ein Stück weit die zeitgenössische Qualität eurer Arbeit liegt, in diesen Bezügen zum Design, zur Präsenz von Logos, zum vereinheitlichtem Erscheinungsbild, genannt Corporate Design oder zu den sogenannten Image-Transfers der heutigen Werbeindustrie.
Michael Geyersbach: Zum Thema Gewalt kann ich noch eine Geschichte erzählen. In der Arbeit für die LVA hatte ich auch ein Wort eingefügt: Fleischoffensive. In der Nähe war ein Büro mit etwas beleibteren Damen, die sich natürlich angesprochen fühlten und es mit einem schwarzen Tuch verhüllten. Worauf mich das Management anrief und zu einem Gespräch bat.
Kai Uwe Schierz: Fandest du die Reaktion der Leute angemessen?
Michael Geyersbach: Ich war verwundert, habe die Versammlung besucht, meine Arbeit erklärt und anschließend festgestellt, dass es gar nicht so sehr um die Kunst ging, sondern um soziale Spannungen zwischen Management und Mitarbeiterschaft. Dass es also eine Stellvertreterhandlung war. Ich fand die Reaktion interessant und auch normal. Kunst ist ja nichts im leeren Raum Schwebendes, sondern steht in der Gesellschaft. Gerade Kunst am Bau provoziert oft Reaktionen, die so aussehen können wie geschildert.
Kai Uwe Schierz: Matthias, mir fiel an deiner Arbeit auf, dass du z.B. unter anderem Werkpräsentationen mit Publikationscharakter gewählt hast, die aber nicht das traditionelle Verständnis von Künstlerbüchern bedienen, sondern als Text-Foto-Zeichen-Montage im Offsetdruck hergestellt wurden. Jedes Buch bildet einen eigenen, in sich abgeschlossenen Kommunikationskontext.
Matthias Geitel: Die Bücher entstanden in einer Zeit, die bestimmt war von Studienreisen und Stipendienaufenthalten im Ausland. Ich erarbeitete meist einen neuen zeichnerischer Zyklus, fotografierte zielgerichtet für eine mögliche Buchproduktion und verfasste Texte. Hinter diesen Büchern steckt der mich bis heute antreibende Wunsch, die verschiedenen Möglichkeiten des künstlerischen Arbeitens zusammenzuführen: die Zeichnung, das Foto, den Text, die Recherche. So hat mich der Druckplattenfund von Dreilinden über abgebildete Motive aus einer Buchproduktion des Deutschen Archäologischen Instituts zum Kabiren-Heiligtum nach Theben geführt. Ich reiste nach Griechenland, um das Heiligtum zu besuchen, das heute ein von Dornengestrüpp überwucherter Ort jenseits allen touristischen Interesses ist. Für mich jedoch sind all diese Dinge es wert, betrachtet zu werden. Das birgt natürlich die Gefahr des Sich-Verlierens. Man hofft auf den Faden der Ariadne, an dem man sich durch das Labyrinth der Möglichkeiten vorwärts tasten kann. Auch, um eine Idee zu bekommen von dem, was man ist und was man tun möchte. Für mich ist das im Moment die Zeichnung, das Ausprobieren der verschiedenen Möglichkeiten, die die Reduktion auf die einfache Linie bietet. Deshalb gibt es für meine Arbeit den konzeptuellen Rahmen „Anonymus PI – Variation der einfachen Linie“, der all meine Zeichnungszyklen zu einer Arbeit zusammenfasst. Er erinnert mich daran, mit Ausdauer „bei der Stange“ zu bleiben, nicht abzuschweifen, weiter zu entwickeln. In gewisser Weise ist eine solche Strenge auch Einschränkung der eigenen Freiheit, aber ich glaube, dass diese Grenzziehung ihre Berechtigung hat. Das betrifft in gleichem Maße die definierten Rahmenbedingungen für jeden Zyklus. „JochRiss“ z.B. lässt nur einen schwarzen Marker und sich nie berührende Einzellinien zu und widmet sich ausschließlich der Darstellung deformierter Köpfe.
Kai Uwe Schierz: Eigentlich doch Schädel, oder?
Matthias Geitel: Ja, Schädel, Köpfe, Gesichter bzw. Fragmente von diesen. Aber neben dem Motiv, das dem Zyklus natürlich seinen Namen gibt, geht es darum zu erkunden, welche Konstellationen der schwarzen Marker-Linien in eintausend Varianten entstehen können. Für mich werden die Zeichnungen dort am interessantesten, wo die Kopf-Assoziation am wenigsten greift ...
Kai Uwe Schierz: Aber immer noch als Kopf zu erkennen ist ...
Matthias Geitel: Das Gegenständliche und das Abstrakte hält sich dann irgendwie die Waage. Im neuesten Zyklus „Detrax“ geht es nur um Netzstrukturen. Hier ist das Prinzip von „JochRiss“ noch weiter auf die Spitze getrieben, weil kein reales Objekt mehr abgebildet wird, was bei einem Notat ja doch wichtig wäre. Es sind nur noch Linienansammlungen, die, wenn sie gut sind, den Betrachter fesseln können.
Kai Uwe Schierz: Mir drängt sich dann aber doch noch die Assoziation eines Vegetabilen auf, so vage diese auch ist. Da ergeben sich Schwellformen oder Zellstrukturen, oder man sieht etwas Räumliches hinein. Könnte man im Bezug auf deine Zeichnungszyklen vielleicht sagen, dass du am Anfang noch stärker analytisch, heute stärker intuitiv vorgehst bei der gestalterischen Beantwortung der Frage, welche Manipulationen der Form welche Bedeutungsnuancen nach sich ziehen? Es ging und geht dir doch nie nur um das Aufzeigen der ganzen Variationsbreite des Grafischen, was ja die Kunst bis heute auch schon so ziemlich durchdekliniert hätte, sondern immer auch um das Verhältnis von Linie und Gedächtnis, oder?
Matthias Geitel: Ja, Erinnerung ist ein Themenbereich, der sich durch meine gesamte Arbeit zieht. Anfang der 90er Jahre beschäftigten mich die wahrzunehmenden Veränderungen des Stadtbildes nach der politischen Wende, du hattest Spurensuche gesagt, und meine damalige Arbeit war tatsächlich stark mit dem Sammeln von Dingen und „Erinnerungs-Zeichen“ verknüpft. Mit dem erneuten Beginn der zeichnerischen Arbeit kreisten meine Gedanken um das Problem, wieviel Informationen man weglassen könnte, ohne dem Betrachter die letzte Möglichkeit zur Identifikation, zum Wiedererkennen zu nehmen. Also die Frage, ab wann wir ein Zeichen als leer ansehen, wobei mir klar ist, dass eine derartige Einschätzung individuell sehr verschieden sein muss. Am interessantesten für mich persönlich ist es, wenn Betrachter meiner Zeichen einer Interpretation Ausdruck verleihen, die für mich bis dahin nie denkbar gewesen wäre. Oft entstehen auf diese Weise ähnliche Wortgebilde, wie sie Michael in seinen Sprachspielen erfindet.
Kai Uwe Schierz: Du initiierst also das Sprachspiel und hoffst darauf, dass jemand den Ball aufnimmt und selbst weiter spielt.
Matthias Geitel: Genau. Deswegen darf ich zu den Zeichen keine Erklärungen abgeben. Würde ich das tun, wäre die Kunst und der kommunikative Austausch auch schon beendet. Es geht ja genau darum auszuloten, was ich als Betrachter in mir selbst freisetzen kann, indem ich mich zu diesen Zeichen in Beziehung setze.
Kai Uwe Schierz: Also Kommunikation als Zeichenaustausch, als Prozess des Codierens und Decodierens, der bestimmten Vereinbarungen folgt.
Matthias Geitel: Auf direkte Vereinbarungen greife ich mit meinen Zeichensystemen nicht zurück, es gibt keinen definierten Bedeutungshorizont, lediglich Ähnlichkeiten. Die Zeichen sind meine Erfindungen und ich lanciere sie in die Gesellschaft, indem ich sie ausstelle bzw. anderweitig ihnen Öffentlichkeit zu verschaffen suche.
Kai Uwe Schierz: Mir fiel das erstmals mit Nachdruck bei der Lektüre deines Buches über New York „WALK DONT WALK“ auf; als ich versuchte, bestimmte Kommentare, die du gegeben hattest, nachzuvollziehen. Z.B. der Schlüssel zu den wiedergegebenen Straßennamen. Ohne deine Erläuterungen des Kontextes wäre mir das alles völlig verborgen geblieben. Natürlich war genau das dein Spiel. Später habe ich das Systemdiagramm „Anonymus PI“ zu deinen Zeichnungszyklen studiert; auch hier bedarf es einer Grundkenntnis deiner Arbeit, um die angegebenen Verbindungen wirklich deuten zu können. Ist das bei dir so eine Art Spiel mit dem Gleichnis der babylonischen Sprachverwirrung, mit dem Missverstehen als notwendig komplementärem Element zum Verstehen?
Matthias Geitel: Wenn man ein gewisses Interesse für die Art meiner Arbeit aufbringt denke ich schon, dass man diese Diagramme verstehen, also die aufgezeigten Zusammenhänge zwischen Zeichnungen, Malerei, Büchern etc. nachvollziehen kann. Aber selbst ohne jede Vorkenntnis vermitteln die Strukturpläne einen Eindruck von der komplexen Anlage meiner Arbeit, in der so viele Dinge aufeinander Bezug nehmen. Schon dieser Eindruck von Komplexität ist je eine wichtige Information. Wer bereit ist, sich intensiver mit dem Material auseinander zu setzen, wird mehr Details erfahren, als der oberflächliche Blick erlaubt. Mir geht es nicht vordergründig um das Missverstehen, das natürlich als Kehrseite des Verstehens Teil des Spiels ist, ich will niemanden an der Nase herumführen, mir geht es um Intensität: des Sehens, des Vorstellens, des Austauschens.
Kai Uwe Schierz: In deiner Antwort fiel mir auf, dass diese Verstehenszusammenhänge auch auf die Arbeit des Gedächtnisses und der Erinnerung anwendbar sind. Würdest du mir zustimmen, wenn ich sage, dass deine Arbeit gleichnishaft heutige Formen der medialisierten Kommunikation abbildet?
Matthias Geitel: Ich weiß nicht, ob man das auf Kommunikationsvorgänge begrenzen sollte. Die Formenvielfalt in unserer Welt nimmt mit großer Geschwindigkeit zu, und ich sehe die Generierung meiner Zeichensysteme und die Ableitung anderer Formen daraus als Entsprechung zu diesem Prozess. Man bekommt hier wie da eine Ahnung davon, wieviele Möglichkeiten der Fortentwicklung es gibt. Da war zuerst eine Tuschezeichnung, eine grafische Form, die digitalisiert und vektorisiert wurde, um dann in Plexiglasfräsungen oder als Pixel in großen Bildern wieder aufzutauchen. Die nächste formverändernde Maschine kann ein Kopierer sein, der neue Modifizierungen hervorruft und Vorlagen für Aquarelle liefert. Die Erinnerung an die Ursprungsformen bleibt auch in ihnen erhalten, d.h. der Rückgriff auf Vergangenes bleibt in der Vielfalt der Varianten möglich.
Kai Uwe Schierz: Michael, in deiner Arbeit gibt es bestimmte künstlerische Referenzen in sprachphilosophische oder auch farbanalytische Traditionen hinein, z.B. zu Ludwig Wittgenstein oder zu Derek Jarman.
Michael Geyersbach: Ja, „Chroma“ ist eines meiner Lieblingsbücher.
Kai Uwe Schierz: Suchst du vielleicht auch eine künstlerische Gleichnisform für Sachverhalte des Kommunizierens, Bedeutens, Verstehens und Missverstehens, die in den Werken beider Autoren eine so große Rolle spielen? Wobei das Bewusstsein für die fragile Komplexität dieser Prozesse innerhalb der Mediengesellschaft, also unserer Gegenwart, enorm zugenommen hat, du dich also auf einer ganz zeitgenössischen Reflexionsebene bewegst.
Michael Geyersbach: Ja und Nein. Es ist ja so, dass ich zumeist Worte aus meinem Fundus benutzt habe und diese dann jeweils anders verwende, anders artikuliere. Ich flüstere z.B. in einem Hörspiel 24 Minuten lang solche Zeitungsworte. Und das ist ja eine andere Form der Verwendung als wenn sie in der Bildzeitung als Überschrift stehen. Es ist also eher ein Suchen nach anderen Möglichkeiten, Sprache zu artikulieren, vorwiegend visuell. Konkrete Sprachprozesse sind natürlich auch wichtig für mich. Ich analysiere sie aber nicht, sondern nehme sie zur Kenntnis und versuche, andere Prozesse der Sprachverwendung zu finden, also die Dinge aus ihrem gewohnten Zusammenhang zu lösen. Ob das zeitgenössisch ist oder nicht, das weiß ich nicht zu sagen. Man ist ja immer so zeitgenössisch, wie man sozial verankert ist. Gerade in den Worttapeten, die ich jetzt mache, spielt die Handzeichnung, also dass von mir selbst geschriebene Wort, die Handschrift, eine große Rolle. Ich scanne sie ein und bearbeite sie am Computer weiter. Ich montiere sie mit computergesetzten Schriften, wobei der Gegensatz zwischen Handschrift und Computersatz eine große Rolle für die Wirkung spielt.
Kai Uwe Schierz: Und das ist für mich dieser – vielleicht ja unbewusste – Reflex der Gegenwart, ist die Teilhabe deines Werkes am Zeitgenössischen. Das Interesse an Graffiti, also auch von den „bad places“, stammt ja, wenn ich recht informiert bin, von den Surrealisten, die auf der Straße und in Herrentoiletten diese Zeichen dokumentiert haben und verarbeitet. Später hat man dann Graffiti und Street Art selbst als Kunstform etabliert. Wenn du dich in deinen Tapeten auf Graffiti beziehst, setzt du sie zugleich dem technischen Standard aus, konfrontierst die in gewisser Weise immer noch anarchistische Handschrift auf Gegenständen und Gebäuden des öffentlichen Raums mit den industriell genormten Schrifttypen für den Computer. Genau dieser Kontrast scheint mir sehr gut in unsere Zeit zu passen, weit weg von der sozialromantischen Geste, mit denen in den 70er Jahren die Künstler sich die Graffitiszene und andere urbane Spezialkulturen aneigneten.
Michael Geyersbach: Natürlich denke ich, wenn ich mich heute auf Graffiti beziehe, auch an die Unterschiede, weil meine Arbeit auch inhaltlich Aussagen trifft, die einen ganz anderen Anspruch haben als die üblichen Graffiti-Tags, wo das grafische Credo des Graffitikünstlers das Bestimmende ist.
Kai Uwe Schierz: Und der Anspruch, mit dem eigenen Zeichen eine bestimmte Stelle im öffentlichen Raum zu besetzen, der dann von anderen Ansprüchen begleitet oder auch überdeckt wird. Das führt mich zu einer weiteren Frage an euch, nämlich das mal indirekte, häufig aber direkte Gespräch zwischen euch beiden betreffend, dass ihr seit einigen Jahren schon pflegt – und zwar als Teil eurer künstlerischen Strategie. Könnt ihr mehr über die Ursprünge und Motivation sagen, auch zu Etappen dieses besonderen Dialogs, der ja über Briefeschreiben und Mail Art hinaus geht?
Matthias Geitel: Es begann wohl 1996. Michael hatte eine Ausstellung im Erfurter EKT und dort die Frage thematisiert, wer sich denn überhaupt für seine künstlerische Arbeit interessiere und demzufolge mit ihm – über den Weg der Kunst – ‚sprechen’ wolle. Daraufhin habe ich mir seine Adresse besorgt und ihm etwas zugesandt: keinen herkömmlichen Brief, sondern irgendeine künstlerische Geste. Ich wartete auf Antwort, die blieb jedoch aus. Wir haben uns dann erst ein, zwei Jahre später, in der damaligen Weimarer Kulturdirektion, persönlich getroffen. Mit Verspätung kamen wir ins Gespräch und es entwickelte sich eine zuerst briefliche Zusammenarbeit, die 1999 im gemeinsamen Projekt „Das Lächeln der Forsythie“ und einer Ausstellung in der ACC Galerie Weimar Öffentlichkeit fand.
Michael Geyersbach: Der Briefwechsel ist etwas Autonomes. Etwas, das sehr viele Formen der Kommunikation auf einer privaten Ebene, die zugleich doch auch wieder nicht nur privat ist, organisiert. Und einfach auch ein freudiges Ereignis ist, wenn man am Postkasten steht. Das ist sogar der Hauptgrund, es macht Spaß, von einem Freund Post zu bekommen.
Matthias Geitel: Aber auch das Spiel von Statement und Antwort und Rückantwort. Wir schicken uns ein Wort, eine Zeichnung, ein Foto oder eine Computercollage. Also im weitesten Sinne bildnerische Notate, auf die der Andere dann inhaltlich und/oder formal reagieret. So kommt es, dass gewisse Abschnitte unseres Briefwechsels interessante Abfolgen ergeben. In der Kunsthalle werden wir einige davon zeigen. Diese Form der Kommunikation verdichtete sich von Zeit zu Zeit auch zu gemeinsamen Projekten, „Das Lächeln der Forsythie“ habe ich schon erwähnt.
Michael Geyersbach: Dazu hatten wir zwanzig Künstler eingeladen – Matthias zehn und ich ebenso, an dem Spiel teilzunehmen. Das Spiel hatte einen offenen Ausgang, von Schritt zu Schritt. Wir haben sukzessive entschieden, wie wir weiter verfahren wollen, indem wir die uns zugesandten Resultate der Kontakte zum Ausgangspunkt für eine neue Kontaktrunde genommen haben. Zuerst haben wir einen transparenten Briefumschlag versandt und Künstler gebeten, einen Zeitungsausschnitt ihrer Wahl da hinein zu stecken und an uns zurückzuschicken.
Matthias Geitel: Je nach der Bereitschaft der Künstler zu antworten verkleinerte sich die Runde derer, die an diesem ‚Gespräch’ unter unserer Führung teilnahmen. Wir haben als zweiten Schritt all denen, die uns Zeitungsausschnitte zurückgesandt hatten, einen unbelichteten Diafilm geschickt und gebeten, diesen nach ihren eigenen Wünschen zu belichten und unentwickelt uns zukommen zu lassen. Wir übernahmen die Entwicklung, was wiederum hieß, dass unsere Mitspieler Erinnerungsbilder produzierten, ohne sie jemals anschauen zu können. Unter Verwendung des Bildmaterials der eingereichten Diafilme haben wir in Form von imaginären Plots Spielfilmideen entworfen, entsprechende Werbepostkarten herstellen lassen: Der neue Film von ....
Michael Geyersbach: Ich glaube, vierzehn Leute sind bei der Stange geblieben. Unsere Erfahrung war, dass es sehr vielschichtige Antworten auf unsere Fragen gab. Das Schöne daran ist, dass man Toleranz übt. Auch künstlerische Toleranz, d.h., dass man, obwohl man konsequent eine eigene künstlerische Meinung und Position vertritt, doch auch andere neben sich gelten lassen kann und die vielen Stimmen in einen gemeinsamen Prozess einbringt.
Kai Uwe Schierz: Jetzt plant ihr ja schon seit längerem das Zusammenspiel für die Kunsthalle Erfurt, für die Doppelpack-Ausstellung. Auch da gibt es wieder die Frage nach der Verständigung, nach dem Einverständnis oder der Auseinandersetzung mit der jeweils anderen Position. Z.B. bezüglich der Frage, wer welche Räume definiert. Welche Erfahrungen hat euch diese Kooperation bisher gebracht?
Michael Geyersbach: Das ist schwierig zu sagen. Wir haben einen unterschiedlichen Stil des Arbeitens. Dazu fiel mir als Arbeitstitel „Strategie und Lapsus“ ein. Wobei ich „Strategie“ mehr an Matthias angedockt habe und den „Lapsus“ mehr an mich. Weil ich z.B. sehr spontan arbeite, Matthias aber systematisch. So setzt Matthias häufig schon Zeichen, die ich dann wieder aufbreche.
Matthias Geitel: Ich plane tatsächlich langfristiger als Michael. Das hat etwas mit dem roten Faden zu tun, dem ich zu folgen versuche. Unser Briefwechsel hat mir einen Raum eröffnet, den meine Arbeit an den Zeichnungszyklen eher verschließt. Er ermöglicht mir, auf mannigfaltige Weise Formen zu erfinden, mit Sprache zu arbeiten und mit Fotografie etc., was ich mir sonst zugunsten höherer Konzentration nicht erlaube. So stellt der Briefwechsel für mich ein Experimentierfeld dar, in dem ich eine ganze Reihe von Ideen generiere, die mich durchaus auf dem eher analytischen und systematischen Teil meines Weges beeinflusst haben. Durch das gemeinsame Gespräch Seiten an sich selbst wahrzunehmen, die möglicherweise zukünftige Entwicklungen aufzeigen, ist spannend
Kai Uwe Schierz: Michael, bist du dann auch etwas systematischer geworden, durch den Dialog?
Michael Geyersbach: (lacht) Ich sag jetzt mal: ein bisschen. Nein, ich glaube nicht. Das ist bei mir wohl nicht mehr machbar. Als ich z.B. am Theater als Bühnenbildner arbeitete, fand ich es immer furchtbar, wenn die Bühne schon in den Werkstätten gebaut wurde. Weil doch der Proben-Prozess noch lief und ich am liebsten die Bühne erst am Tag vor der Generalprobe realisiert hätte. Also, ich bin wirklich jemand, der bis zum Schluss ändert und alles auf den letzten Drücker fertig stellt. Z.B. die Freiheit, auf etwas, was Matthias vorgibt, zu reagieren, das halte ich für eine schöne Angelegenheit. Also jetzt den fertigen Katalogentwurf von Matthias zu sehen und für mich zu sagen, dort arbeitest du dagegen, dort arbeitest du mit. Quasi eine Folie zu haben, die wie ein Palimpsest hinter meiner Arbeit steht. Vielleicht ist Palimpsest das schönste Bild dafür, weil ich Dinge aufnehme, formaler und inhaltlicher Natur, die dann hinter meinen eigenen ästhetische Entscheidungen stehen. Ich bin dann nicht ordentlicher oder systematischer geworden, sondern habe so eine Art Koordinatensystem im Hintergrund, das mir sehr viel bedeutet.
Matthias Geitel: Jeder von uns hat eine Reihe von Arbeiten, die ihm besonders wichtig sind. Die Gestaltung der Erfurter Ausstellung läuft deshalb so ähnlich ab wie die gemeinsame Arbeit an einem Buch. Um die Kommunikation zwischen den beiden ausstellenden Künstlern zu verdeutlichen, wählt man schließlich Arbeiten aus, die selbst dialogisch sind, im Sinne von Konfrontation ebenso wie im Sinne von Gleichklang.
Michael Geyersbach: Jeder Dialog ist auch ein Selbstgespräch. Einem Selbstgespräch zuzuschauen, ist spannend; wieviel spannender ist es noch, zwei Selbstgesprächen beim Zwiegespräch beizuwohnen?
Kai Uwe Schierz: Ein besseres Schlusswort kann man nicht finden. Ich danke euch für das Interview.