Matthias Geitel

 

1848/49: Bürgerliche Revolution - Bürgerliche Freiheit

Ausstellung im Renaissance-Saal der Kunsthalle in Zusammenarbeit mit dem Erfurter Kunstverein, Erfurt, 1998

 

Für die Ausstellung hatte ich eine Verschränkung mehrerer Ebenen entworfen. Mittels einer fiktiven Geschichte schilderte ich den ersten Revolutionstag aus der Sicht eines jungen Fotografen, dessen erste belichtete Fotoplatten verloren gehen. Dem gegenüber wurden Bilddruckplatten aus dem Dreilinden-Fundus präsentiert, die zum überwiegenden Teil zur Herstellung des Reallexikons der Vorgeschichte gedient hatten, also in die 1920er Jahre verwiesen. Eine Fotoreihe dokumentierte den Fundort im Berliner Grenzstreifen bei Dreilinden kurz nach dem Fall der Mauer. Jacobs verloren gegangenen Daguerreotypien ersetzte ich durch Fotos, die 1998 von mir an den beschriebenen Orten aufgenommen wurden. Zur Ausstellung erschien ein Faltblatt mit einem Text von Dr. Kai Uwe Schierz.

 

Projektionstext, 5 Dias in Endlosprojektion:

Dia 1
Es war ein malerischer Anblick: dünne Nebelschleier über taunassen Wiesen, der matte Glanz frisch gebrochener Erde, die gleißenden Linien schillernder Spinnennetze. Herr S. liebte es, sich zu erinnern. In den zurückliegenden 17 Jahren hatte er eine stattliche Sammlung deutscher und italienischer Landschaftsbilder zusammengetragen. Etwas versteckt, in einer Nische im Eßzimmer, hing sein liebstes Stück: eine kleine Ölstudie von C. D. Friedrich. Herr S. hatte das Bild 1842 bei der Auflösung der Reimerschen Sammlung in Berlin ersteigern können. Seitdem war es für ihn zum Inbegriff der eigenen künstlerischen Ziele geworden.

Dia 2
Herr S. hatte dem Drängen seines Sohnes Jacob nachgegeben und eine Apparatur zur Belichtung von Silberplatten erworben. Beide waren sie fasziniert von dem Gedanken, mit technischen Mitteln momentane Stimmungen festhalten zu können. Die jüngst entwickelte Daguerreotypie versprach diesbezüglich die erstaunlichsten Möglichkeiten. Da es schien, daß der 24. November 1848 ein heller Tag werden könnte, machte sich Jacob bereits am Morgen auf den Weg, um zum ersten Mal Aufnahmen in der freien Natur anzufertigen. Er verließ die Stadt durch das Löber Tor und wandte sich Richtung Südwesten. Der ungewisse Ausgang der Experimente verlieh seiner Wanderung etwas Abenteuerliches.

Dia 3
Jacob belichtete 5 Silberplatten mit folgenden Landschaftsmotiven:
1. Das Gleis der Thüringischen Eisenbahn, vom Löber Tor aus Richtung Westen gesehen
2. Der Weg auf dem Löber Feld, Richtung Steiger Wirtshaus
3. Am Waldrand, mit Blick auf Erfurt
4. Eine Baumgruppe an der Arnstädter Straße, mit Blick Richtung Steigerwald
5. Das freie Feld vor dem Schmidtstädter Tor, im Hintergrund die Schweden-Bastion

Dia 4
Um die Mittagszeit betrat Jacob wieder die Stadt. Unruhe lag in der Luft. An der Ecke Schmidtstädter Straße/Neuerbe stieß er auf eine Barrikade aus Fuhrwerken, Möbeln und Pflastersteinen. Angst bemächtigte sich seiner. Eine zweite Barrikade, Der Heimweg über die Augustbrücke war abgeschnitten, der Zugang zum Anger versperrt, die Mündung einer preußischen Kanone gegen ihn gerichtet. Jacob starrte auf die Szenerie, dann belichtete er die beiden verbliebenen Silberplatten.
6. Die Barrikade an der Augustbrücke
7. Die Barrikade an der Augustbrücke

Dia 5
In den Abendstunden hatte das Militär die Stadt wieder unter Kontrolle. Der Belagerungszustand wurde verhängt. Gerüchte von Haussuchungen und Verhaftungen machten die Runde. Herr S. war über die in seinen Augen leichtfertige Tat Jacobs verärgert. Er beschloss, die Daguerreotyp-Ausrüstung und alle bis dahin angefertigten Aufnahmen an einem sicheren Ort zu verstecken, bis die Aufregungen sich gelegt hätten. Als er zwei Jahre später die Zeit für gekommen hielt und das Versteck aufsuchte, war der Kasten nicht mehr aufzufinden.